| Corona-Pandemie

ECDC warnt vor unorganisierter Aufhebung der Ein­dämmungs­maß­nahmen

Coronavirus
Coronavirus

Das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) veröffentlichte am 23. April 2020 seine neunte Risikobewertung zu COVID-19, in der es vor einer unorganisierten Lockerung der restriktiven Maßnahmen warnt. In seiner Bewertung greift das ECDC die Grundsätze auf, die im gemeinsamen Fahrplan der Kommission und des Rates über die Aufhebung der COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen enthalten sind, wobei sie diese weiterentwickelt und präzisiert.

Laut der ECDC-Bewertung scheint infolge der Eindämmungsmaßnahmen in 20 EU/EWR-Ländern die Übertragungswelle ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Es gebe einen Rückgang der Anzahl der neu gemeldeten Fälle. Die Zahl der Todesfälle nehme in 27 Ländern dagegen weiter zu. Nur vier Staaten hatten in den letzten fünf Tagen vor Veröffentlichung der Risikobewertung keinen Anstieg der Todesfälle gemeldet. Alle EU/EWR-Länder und das Vereinigte Königreich haben, zumeist seit Mitte/Ende März, eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um auf die Pandemie zu reagieren. Die EU/EWR-Staaten haben dabei verschiedene Eindämmungsmaßnahmen unterschiedlich umgesetzt.

Der Median-Zeitraum zwischen der Umsetzung der Eindämmungsmaßnahmen und der aufgezeichneten Höchstzahl der täglich gemeldeten Fälle (Stand: 22. April 2020) betrug 23 Tage bei der Absage von Massenveranstaltungen, 18,5 Tage nach Schließung öffentlicher Räume, 20 Tage nach Schließung von Bildungseinrichtungen einschließlich Kindertagesstätten, 23,5 Tage nach der Umsetzung von Empfehlungen für Risikogruppen oder für die Allgemeinbevölkerung und 14 Tage nach dem vollstreckbaren Erlass von Ausgehsperren. Der zeitliche Zusammenhang zwischen der Anwendung von Eindämmungsmaßnahmen und den Veränderungen der Morbiditäts- und Mortalitätsraten sowie die Ergebnisse von Modellstudien lassen laut ECDC-Bewertung vermuten, dass diese Maßnahmen (u. a. Test- und Kontaktverfolgungsstrategien, Aufstockung von Gesundheitskapazitäten, transparente Öffentlichkeitskommunikation) und insbesondere die „Bleib‘ zuhause“-Politik mit hoher Wahrscheinlichkeit eine wichtige Rolle bei der Verringerung der Übertragung gespielt haben und in einigen regionalen Gebieten zu einem starken Rückgang der Krankheitsinzidenz- und Mortalitätsrate geführt haben. Eine Modellstudie in der französischen Region Ile-de-France habe gezeigt, dass die Einführung eines Lockdown die effektive Reproduktionszahl von 3,0 auf 0,68 verringert habe. Eine ähnliche Studie in Vo‘ (Italien) schätzt die Verringerung infolge des Lockdown von 3,0 auf 0,24. Die relative Wirksamkeit der verschiedenen Eindämmungsmaßnahmen sei noch unklar, da viele Staaten Interventionen gebündelt eingeführt haben. Die Einschätzung der Wirksamkeit von Interventionen zur Verringerung der Übertragung und zur Senkung von Morbidität und Mortalität bleibe eine Forschungspriorität.

Nach einem Rückgang der Virusübertragungsrate haben mehrere Länder (u. a. Österreich, Dänemark, Deutschland, Italien, Norwegen, Slowenien) begonnen, ihre Maßnahmen durch z. B. die Wiedereröffnung von Grundschulen und Kindertagesstätten (z. B. Dänemark, Norwegen) sowie kleinen Einzelhandelsgeschäften (z. B. in Österreich, Deutschland, Italien, Slowenien) zu lockern. Das ECDC weist in seiner Bewertung darauf hin, dass das Risiko eines plötzlichen Wiederauflebens einer anhaltenden Übertragung in der Bevölkerung „moderat“ sei, wenn die Eindämmungsmaßnahmen schrittweise auslaufen und von geeigneten Beobachtungssystemen und Kapazitäten begleitet werden, mit der vorbereiteten Option, bei Bedarf Maßnahmen rasch wieder-einzuführen. Auf der anderen Seite bleibe das Risiko „sehr hoch“, wenn Maßnahmen auslaufen, ohne dass geeignete Systeme und Kapazitäten vorhanden sind, was zu einem wahrscheinlich raschen Anstieg der Morbidität und Mortalität der Bevölkerung führen könne. Laut den vom ECDC gesammelten Informationen sei die Immunität der Bevölkerung nach wie vor gering (unter 10 Prozent in der Mehrzahl der Fälle). Nichtsdestotrotz könne laut der Bewertung der ECDC eine überlegte Verfeinerung der Kontrollmaßnahmen dazu beitragen, die negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft und Wirtschaft zu mildern und gleichzeitig die Gesundheit der am stärksten von der Entwicklung schwerer Krankheiten bedrohten Menschen weiterhin zu schützen. Die ECDC hebt mehrmals in ihrer Bewertung die besonders gefährdete Situation von Bewohnern von Pflegeeinrichtungen hervor und die Wichtigkeit der Früherkennung von Ansteckungsfällen durch Testung. Auch das Personal in Langzeitpflegeeinrichtungen sollte laut der ECDC-Bewertung regelmäßig getestet werden (z. B. zweimal wöchentlich), um das Risiko der Einschleppung und Ausbreitung von Infektionen weiter zu verringern.

Allerdings bezieht sich die ECDC in ihrer Bewertung auch auf eine Studie über die Belastung durch COVID-19, die die Schätzung vorlegt, dass 31 Prozent der europäischen Bevölkerung aufgrund der zugrundeliegenden Prävalenz chronischer Krankheiten einem erhöhten Risiko ausgesetzt seien, schwere Krankheiten zu entwickeln. Daher können selbst gezielte Interventionen mit hohen gesellschaftlichen Kosten verbunden sein.

Für die Organisation der Lockerung von Eindämmungsmaßnahmen empfiehlt die ECDC in ihrer Bewertung verschiedene Kriterien. So sollte die Überwachung epidemiologischer Indikatoren bereits vor der geplanten Lockerung erfolgen, um eine Grundlinie zu schaffen (dafür empfiehlt die ECDC eine Dauer von mindestens zwei Wochen). Die Anpassung von Maßnahmen sollte in kleineren oder örtlich begrenzten geografischen Gebieten erfolgen, um die Auswirkungen zu minimieren, falls die Aufhebung/Lockerung dieser Maßnahmen zu einem signifikanten Anstieg der Fälle führt. Nach der Aufhebung/Lockerung der Maßnahme müsse ausreichend Zeit vergehen, um deren Auswirkungen auf die Viruszirkulation und die daraus resultierende COVID-19-bezogene Morbidität und Mortalität zu bewerten. Die bisherigen Erkenntnisse würden darauf hindeuten, dass es mindestens zwei bis vier Wochen dauern kann, bis die Auswirkungen der Anpassungsmaßnahmen in epidemiologischen Überwachungssystemen sichtbar werden.

Bei der Entscheidung darüber, welche Maßnahmen zuerst aufgehoben werden können, seien diejenigen zu wählen, die auf bestimmte Altersgruppen ausgerichtet sind, bei denen die Evidenz zeige, dass eine anhaltend begrenzte Krankheitsübertragung mit geringerer Wahrscheinlichkeit zu größeren Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit führen wird. Bisher gelte dies möglicherweise nur für Kinder unter 10 Jahren (die nicht zu Hochrisikogruppen gehören). Allerdings gebe es noch immer nur begrenzte Daten über die Rolle von Kindern bei der Übertragung der Krankheit. Bei der Anpassung von Maßnahmen zur physischen Distanzierung sollten Maßnahmen ermittelt werden, die mit einigen Anpassungen über längere Zeiträume beibehalten werden könnten. So könnten z. B. in einem ersten Schritt Aktivitäten im Freien erlaubt werden, bei denen der physische Abstand von zwei Metern garantiert werden kann. Dasselbe gilt für die Öffnung von öffentlichen Räumen. In einem nächsten Schritt könnte der Zugang zu offenen oder geschlossenen Räumen ermöglicht werden, in denen Menschen leicht Abstand zueinander halten können. Um die Strenge physischer Distanzierungsmaßnahmen zu verringern und das Wohlbefinden der Bevölkerung zu fördern, befürwortet die Studie die Bildung von so genannter „Mikro-Gemeinschaften“. Die ständige Begegnung mit denselben Kollegen und einer kleinen Gruppe von Freunden werde zu niedrigeren Übertragungsraten führen als die Begegnungen mit einer vielfältigen und sich verändernden Gruppe.

Unabhängig von den Anpassungsmaßnahmen müssen laut der Bewertung Menschen, bei denen das Risiko schwerer klinischer Folgen durch die Erkrankung an COVID-19 besteht, unabhängig von Alter und Beruf vor einer Infektion geschützt bleiben, bis ein wirksamer Impfstoff oder eine wirksame Behandlung zur Verfügung steht. Alle indirekten Folgen von Lockerungsmaßnahmen sollten zudem vor ihrer Umsetzung bewertet werden, z. B. hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und dem Überlaufen öffentlicher Räume, in denen hohe Raten der Virusübertragung auftreten können. (JC)

Teilen

Zurück