| Brüssel, Juli 2022

Gedanken zu Europa: ein Plädoyer für mehr innereuropäische Entschlossenheit

Der nachfolgende Aufsatz wurde von unserer Praktikantin Julia Gaydoul im Anschluss an ihr Praktikum geschrieben.

Da lernt man – und mit man meine ich vermutlich ich – schon früh im Bachelorstudium, wiederholt die unterschiedlichen Institutionen der Europäischen Union auf Deutsch und auf Französisch herunterzubeten. Und bis zum Schluss ist man sich trotzdem nicht sicher, was von beidem doch gleich der Europäische Rat und was der Rat der Europäischen Union ist, und wo man den Europarat wiederum genau verordnen soll. Dann, in den Vorlesungen des Masters, wird erzählt, dass wirtschaftliche Kooperation in der europäischen Geschichte lediglich als Mittel zum Zweck der politischen Integration (und somit des Friedens) charakterisiert wird; nicht etwa als Ziel. Dabei scheint diese Logik heutzutage immer mehr an Relevanz zu verlieren, denn um den Frieden vor allem in Europa müssen wir, so scheint es, ja nicht länger fürchten. Und schließlich kommt der 24. Februar 2022 und plötzlich gilt es, sämtliche europäische Wertevorstellungen, und insbesondere die Art des Eintretens dafür, auf den Kopf zu stellen.

Die EU ist bisher stets an Langzeitprojekten, deren Umsetzung stark von der Motivation der Mitgliedsländer zur weiteren Integration abhing, gewachsen. Zu Beginn wurde der Werdegang der Union durch ihre Definition als Friedensprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt, das mit dem Ende des Kalten Krieges vervollständigt schien. Zudem legte die Einheitliche Europäische Akte von 1987 die vier Freiheiten fest, dank denen Kapital, Waren, Personen sowie Dienstleistungen innereuropäische Grenzen bis heute ohne Einschränkungen passieren können. Die vollständige Etablierung des Binnenmarktes wurde schließlich mit dem Vertrag von Maastricht erreicht und legte gleichzeitig den Grundstein für die Einführung einer gemeinsamen Währung – der Euro ist die offizielle Währung in derzeit 19 (und ab dem 1. Januar 2023 20) EU-Mitgliedstaaten.

In den letzten Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, scheint die Europäische Union allerdings an externen Krisen (statt an weiteren internen Integrationsbestrebungen) wachsen zu müssen. So bestimmten und bestimmen seit den 2000er Jahren vor allem die Weltwirtschaftskrise, das erhöhte Migrationsaufkommen seit dem Jahr 2015, der Klimawandel, die Corona-Pandemie und zuletzt die russische Invasion in die Ukraine den europäischen Kurs und stellen die europäische Solidarität wiederholt auf die Probe. Nunmehr verlaufen viele dieser Konfliktlinien gleichzeitig, ohne dass die einzelnen Herausforderungen, die längst nicht mehr getrennt voneinander betrachtet werden können, nachhaltig gelöst werden. Und apropos wachsen: Offenbar stand die Erweiterung der Union derweil stärker im Vordergrund als die tiefergehende Integration und Verflechtung der Unionsmitglieder. Dies mögen manche in Anbetracht der Schwere und gleichzeitigen Vielschichtigkeit der tagesaktuellen Problemstellungen durchaus kritisch beäugen – nicht etwa die Erweiterung der EU per se, aber die sich immer weiter abzeichnende Entwicklung hin zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten.

Für mehr inneren Zusammenhalt müsste sich die Union also vermutlich neue interne Ziele stecken, was in Anbetracht der Tatsache, dass ihre Agenda derzeit vor allem fremddiktiert ist, besonders schwerfallen mag. Vielleicht wäre dies also auch der Moment, die flexible Integration der zwei Geschwindigkeiten und die sich daraus ergebenden verschiedenen Stufen der Zusammenarbeit in Europa als Chance zu begreifen. Unterschiedlich schnelle Schritte führten dabei weiterhin zu dem grundlegenden Ziel der „immer engeren Union“, dass in der Präambel des Vertrags über die Europäische Union festgeschrieben ist. Diese Idee impliziert, dass zumindest vorläufig nicht länger in allen Angelegenheiten der Konsens der gesamten Gemeinschaft angestrebt wird. Momentan ist Einstimmigkeit im Rat der EU allerdings bei einigen Belangen erforderlich, die die Mitgliedstaaten als sensibel ansehen, so beispielsweise in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Finanzen. Nicht zuletzt das Europäische Parlament hat sich bereits für eine Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip bei wichtigen Entscheidungen in der Union ausgesprochen und reagierte damit auf die Forderungen, die im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas für ein besseres und demokratischeres Europa von Vertreterinnen und Vertretern der EU-Bürgerinnen und EU-Bürger formuliert wurden. Die im Zuge der einjährigen Konferenz hervorgebrachten Anregungen ließen sich teils nur durch Vertragsänderungen umsetzen; so auch die Idee, ein Vorschlagsrecht des Parlaments für Gesetze zu etablieren und so dem einzigen direkt vom europäischen Volk gewählten Organ der EU mehr Einflussmöglichkeiten zuzuschreiben. Man merkt, bereits hier kann in Zukunft einiges ins Rollen kommen.

Während meines Praktikums bei der rheinland-pfälzischen Landesvertretung in Brüssel sind mir viele europäische Zusammenhänge klarer geworden (und die Räte lassen sich plötzlich ganz einfach auseinanderhalten!), denn mir haben sich zahlreiche weitere Möglichkeiten geboten, um Einblicke in aktuelle Vorgänge innerhalb der EU-Institutionen zu erhalten und darüber zu berichten. Um ein paar Beispiele zu nennen: In den Monaten Mai und Juni 2022 wurde ausgiebig bezüglich des REPowerEU-Plans debattiert, durch den die europäische Abhängigkeit insbesondere von Russland in puncto Energie verringert und die Energiewende hin zum grünen Wandel angetrieben werden soll. Dazu passend drehten sich viele Diskussionsrunden um das „Fit for 55“-Paket, mit dem das im European Green Deal benannte Vorhaben, den Ausstoß an Treibhausgasen in der EU bis zum Jahr 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber dem Ausstoß von 1990 zu senken, und das Ziel der europäischen Klimaneutralität bis 2050 erreicht werden sollen. Auf der europäischen Agenda stand zudem das Thema der Geschlechtergleichstellung. So legt die Strategie für die Gleichstellung der Geschlechter 2020–2025 politische Ziele und Maßnahmen dar, wie messbare Fortschritte auf dem Weg zu einem Europa der Gleichstellung erzielt werden können. Auch wurde viel zu den Themen der Cybersicherheit und Bekämpfung von Desinformation im Internet sowie hinsichtlich der gegen Russland gerichteten Sanktionspakete verhandelt.

Die Debatten, die auf EU-Ebene zurzeit (wenn auch kleinschrittig) geführt werden, zeigen viele Schritte in die richtige Richtung. Um also nicht weiter im immerwährenden Konflikt zwischen dem Prinzip der nationalen Souveränität und dem der Supranationalität gefangen zu sein, was die Transformation der EU von einer bloß reagierenden zu einer aktiv agierenden Gemeinschaft erschwert, braucht die Union weitreichende Integrationsimpulse und muss sich gleichermaßen ihrer gemeinsamen globalen Ambitionen bewusstwerden. Ansatzpunkte dafür gibt es derzeit mehr als genug. Aktuelle Herausforderungen, wie beispielsweise die Klimapolitik, müssen als gemeinsame Aufgaben gesehen werden. Wenn auch der Klimawandel keine unterschiedlichen (und erst recht nicht langsamen) Handlungsgeschwindigkeiten zulässt, so können und müssen in anderen Integrationsfeldern verschiedene Koalitionen der Entschlossenen innerhalb der EU mit ermutigendem Beispiel vorangehen und dafür sorgen, dass die Union als Ganzes stärker zusammenrückt – entgegen allen nationalistischen und populistischen Bestrebungen.

 

Liebe Leserinnen und Leser,

das Team der Landesvertretung Rheinland-Pfalz verabschiedet sich in die Sommerpause. Wir freuen uns, Sie ab dem 26. August 2022 wieder mit den neuesten Informationen aus Brüssel zu versorgen und wünschen Ihnen eine erholsame und entspannende Sommerzeit.

Teilen

Zurück