Ebenfalls diskutiert wurde das Problem des sogenannten „gold plating.“ Darunter versteht man die Übererfüllung durch Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von europäischen Rechtsakten in nationales Recht.
Unter den Teilnehmern waren Experten, die einen wissenschaftlichen Blick auf die genannten Themen boten, Mitglieder des EP, Abgeordnete nationaler Parlamente (u.a. Spanien, Portugal, Tschechien, Niederlande, Litauen, Italien, Frankreich, Schweden) und regionaler Parlamente, Vertreter des Ausschusses der Regionen sowie Vertreter der Kommission (KOM).
Das in Art. 5 Abs. 3 des EU-Vertrages verankerte Subsidiaritätsprinzip sieht vor, dass die EU nur tätig werden darf, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können. Sofern die Mitgliedstaaten der Auffassung sind, dass ein Handeln der EU-Institutionen gegen den Grundsatz der Subsidiarität verstößt, besteht die Möglichkeit zur Subsidiaritätsrüge (Abgabe von begründeten Stellungnahmen, Frühwarnfunktion) oder zur Klage vor dem EuGH, sofern der Rechtsakt bereits erlassen wurde. Innerhalb des Frühwarnsystem gibt es diverse Abstufungen, die unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich ziehen, sogenannte „gelbe“ und „orange Karte“.
Die vom Rechtsausschuss des Parlaments ausgerichtete Veranstaltung verdeutlichte die unterschiedlichen Sichtweisen auf die konkrete Anwendung des Subsidiaritätsmechanismus sowie die verschiedenen Auffassungen darüber, welche Gremien bzw. Institutionen einen Subsidiaritätsverstoß formal-juristisch benennen dürfen. Auch wurden Maßnahmen benannt, durch die eine Übererfüllung europäischer Rechtsvorgaben verhindert werden könnte.
Aus wissenschaftlicher Sicht lasse sich feststellen, dass in den vergangenen zwölf Jahren (Vertrag von Lissabon ist am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten) der Mechanismus nur sehr wenig genutzt wurde. Auch sei – dies wurde im Vorfeld befürchtet – kein Missbrauch mit Blick auf eine Blockierung von Gesetzgebungsverfahren durch vermehrte Anwendung des Mechanismus erkennbar. Auch habe der EuGH in seiner Rechtsprechung noch keine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips festgestellt.
Die Vertreter der nationalen Parlamente sprachen sich vor allem dafür aus, die Fristen zur Erstellung von begründeten Stellungnahmen zu verlängern. Vertreter der regionalen Parlamente forderten ebenso ein Mitspracherecht ein, da die Regionen nun einmal EU-Recht unmittelbar umsetzten müssten. Die Einführung einer sogenannten „grünen Karte“, d.h. die Möglichkeit gegenüber der KOM Vorschläge für Gesetzesinitiativen zu unterbreiten oder in begründeten Stellungnahmen die Überarbeitung, Änderung oder Aufhebung bestehender Rechtsvorschriften einzufordern, wurde für die nationalen Parlamente vielfach gefordert.
Aus Sicht des Europäischen Parlaments müsste demgegenüber allerdings beachtet werden, dass die Einführung eines Initiativrechts für nationale Parlamente eine erhebliche Divergenz zum EP darstellen würde. Ein Initiativrecht (mit wenigen Ausnahmen) stehe selbst dem EP nicht zu und würde die nationalen Parlamente in ungerechtfertigter Art und Weise aufwerten.
Hinsichtlich der Verhinderung von Übererfüllungen biete sich ein parlamentarisches Verfahren in den nationalen Parlamenten an, dass entweder bereits zum Zeitpunkt der Entwurfsfassung zur nationalen Umsetzung europäischen Rechts ein Verbot für eine Übererfüllung benennt oder bei Übererfüllung der Regierung eine Rechtfertigungspflicht auferlegt, diese Übererfüllung vor dem Parlament zu erklären.
Der Vertreter der KOM machte deutlich, dass die KOM die begründeten Stellungnahmen an die dafür zuständigen Stellen innerhalb der KOM weiterleite und diese auch Beachtung fänden. Die KOM sei der Auffassung, dass die Antwort auf die Frage nach der effektiven Anwendung des Subsidiaritätsmechanismus nicht in der Anzahl der bei der KOM eingehenden begründeten Stellungnahmen zu finden sei. Die KOM würde innerhalb der begründeten Stellungnahmen mit einer Vielzahl an Sachverhalten konfrontiert, die nicht zwingend einen Bezug zur Subsidiarität aufweisen. Die KOM spricht sich für eine aktivere Haltung der Akteure und Institutionen aus. Sollten Akteure bereits im Vorfeld Bedenken hinsichtlich der Subsidiarität hegen, so seien diese frühzeitig anzubringen. Reaktives Handeln auf den Gesetzesentwurf sei nicht immer ratsam. (AR)