Im Mittelpunkt der diesjährigen Rede stand der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und seine Folgen für die Bürgerinnen und Bürger in der EU. Die Kommissionschefin würdigte zunächst den Mut der Ukrainerinnen und Ukrainer und begrüßte die im Plenarsaal anwesende Ehefrau des ukrainischen Präsidenten, Olena Selenska.
Anschließend reüssierte von der Leyen, dass sich der Gaspreis in Europa verzehnfacht habe. Zu lange seien die Warnungen aus dem Baltikum, aus Polen, Belarus, Moldau, Georgien und aus der Ukraine vor einer gefährlichen Abhängigkeit von Russland ignoriert worden. Die EU müsse nun zügig diversifizieren und auf verlässliche Gaslieferanten wie den USA, Norwegen oder Algerien setzen. Hier seien schon gute Fortschritte erzielt worden. Im Vorjahr habe die Abhängigkeit der EU von russischem Gas noch 40 Prozent betragen, nun seien es nur noch neun Prozent.
Die Bürgerinnen und Bürger müssten sich auf schwere Zeiten einstellen, da Gas- und Strompreise massiv gestiegen seien. Zur Entlastung kündigte die Kommissionspräsidentin ein Maßnahmenpaket an, mit dem unter anderem eine Obergrenze für Gewinne von Energiefirmen eingeführt werden soll. Diese soll künftig die Abschöpfung und Umverteilung von Zufallsgewinnen ermöglichen - bei Gas- und Ölkonzernen und bei Produzenten erneuerbarer Energie. In Krisenzeiten wie diesen dürften keine unverhältnismäßigen Gewinne auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher erzielt werden, sondern die betroffenen Konzerne müssten vielmehr einen „gerechten Beitrag“ leisten. Details zur Art der Obergrenze nannte von der Leyen nicht, außer dass sie temporärer Natur sei. Die Vorschläge der Kommission würden 140 Milliarden Euro an Einnahmen für die Mitgliedstaaten bringen, „um die Not unmittelbar zu lindern“.
Die Kommissionspräsidentin sprach zudem von Plänen für eine umfassende Reform des Strommarktes. Von der Leyen konstatierte, dass die derzeitige Ausgestaltung des Elektrizitätsmarkts, die auf dem Merit-Order-Prinzip beruht, nach der Strom- und Gaspreis aneinander gekoppelt sind, nicht mehr den Interessen der Menschen in Europa gerecht werde. Die Vorteile kostengünstiger erneuerbarer Energien müssten künftig bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ankommen. Aus diesem Grund werde der Strom- vom „dominanten Gaspreis“ entkoppelt. Die Kommissionpräsidentin kündigte an, den Elektrizitätsmarkt in der EU mittels einer „tiefen und umfassenden Reform“ verändern zu wollen.
Ferner kündigte sie die Gründung einer europäischen Wasserstoff-Bank an, die dem Energieträger Wasserstoff „vom Nischenmarkt zum Massenmarkt“ verhelfen soll. Es gehe darum, „Angebot und Nachfrage von morgen miteinander in Einklang zu bringen“. Die Wasserstoff-Bank werde dafür sorgen, dass Wasserstoff angekauft werden könne, insbesondere durch die Verwendung von Mitteln aus dem Innovationsfonds. Sie könne so „3 Mrd. Euro in den Aufbau des künftigen Marktes für Wasserstoff investieren“.
Schließlich sprach die Kommissionspräsidentin über Rohstoffe wie seltene Erden und Lithium. Hier müsse man aufpassen, nicht in eine ähnliche Abhängigkeit zu geraten wie bei Russland und dem Gas. Der Lithium-Markt werde zu etwa 90 Prozent von China dominiert. Neue Partnerschaften müssten geschlossen werden. Von der Leyen nannte Chile, Mexiko, Neuseeland, Australien und Indien als mögliche Kooperationspartner. Die Kommissionspräsidentin kündigte hierzu entsprechende Maßnahmen und das Vorantreiben von neuen Freihandelsabkommen an, mit denen die Unabhängigkeit der EU und die Diversifizierung der Bezugsquellen von bestimmten Rohstoffen vorangebracht werden solle.
Im Anschluss an die Rede präsentierte die Europäische Kommission einen konkreten Verordnungsvorschlag für eine Notfallintervention aufgrund der gestiegenen Energiepreise – hier die wichtigsten Punkte:
- Senkung Stromverbrauch
Die Kommission schlägt vor, den Stromverbrauch während ausgewählter Spitzenpreiszeiten um mindestens fünf Prozent zu senken. Die Mitgliedstaaten sind demnach gehalten, die Spitzenpreiszeiten zu ermitteln und die Nachfrage in diesen Zeiträumen zu reduzieren. Eine Verringerung der Nachfrage zu Spitzenzeiten soll zu einer Reduzierung des Gasverbrauchs um 1,2 Mrd. Kubikmeter „über den Winter“ führen.
- Einnahmenobergrenze für Energiekonzerne
Die Kommission schlägt auch eine vorübergehende Einnahmenobergrenze für Stromerzeuger vor. Gemeint sind solche Erzeuger, die außergewöhnlich hohe Einnahmen bei relativ stabilen Betriebskosten erzielen. Die Kommission schlägt vor, die Erlösobergrenze auf 180 EUR/MWh festzulegen. Einnahmen oberhalb dieser Grenze (der aktuelle Marktpreis liegt bei 400 EU/MWh) werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten eingezogen und dazu verwendet, Energieverbrauchern zu helfen, ihre Kosten zu senken.
- Solidaritätsbeitrag auf überschüssige Gewinne
Drittens schlägt die Kommission auch einen befristeten Solidaritätsbeitrag auf überschüssige Gewinne aus Tätigkeiten im Öl-, Gas-, Kohle- und Raffineriesektor vor, die nicht unter die Einnahmenobergrenze fallen. Dieser zeitlich begrenzte Beitrag soll Investitionsanreize für die grüne Wende bieten.
Er soll von den Mitgliedstaaten auf solche Gewinne aus dem Jahr 2022 erhoben werden, die mehr als 20 Prozent über den durchschnittlichen Gewinnen der vorangegangenen drei Jahre liegen. Die Einnahmen werden laut Kommissionsvorschlag von den Mitgliedstaaten eingezogen und an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergeleitet, insbesondere an schutzbedürftige Haushalte, stark betroffene Unternehmen und energieintensive Industrien. Die Mitgliedstaaten sollen im Einklang mit den Zielen von REPowerEU auch grenzüberschreitende Projekte finanzieren oder einen Teil der Einnahmen für die gemeinsame Finanzierung von Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigung oder zur Förderung von Investitionen in erneuerbare Energien und Energieeffizienz verwenden können. (HP)