Da dies die letzte „State of the Union“-Rede in dieser Legislaturperiode war, stand die Bilanzierung der politischen Erfolge als ein zentraler Punkt der knapp einstündigen Rede im Vordergrund. Den Ausblick richtete sie vor allen Dingen auf das Thema Erweiterung der Europäischen Union.
Die Kommissionspräsidentin skizzierte bei ihrer vierten „State of the Union“-Rede zunächst die politischen Erfolge ihrer Kommission (KOM) in den Bereichen Pandemie-bekämpfung, Ukrainekrieg, Energiewende, Green Deal sowie beim digitalen Wandel. 90 Prozent ihrer politischen Leitlinien habe die KOM seit 2019 realisiert.
Ferner schlug sie mehrere Initiativen vor, um die Industrie bei der Dekarbonisierung zu unterstützen und die Rahmenbedingungen für die Unternehmen zu verbessern. Der Green Deal sei eine Erfolgsgeschichte, die Europa zum weltweiten Zentrum der „Green Tech“ mache. Es sei beispielsweise seit 2019 gelungen, die Zahl der Unternehmen mit „sauberer Stahlproduktion“ in der EU von null auf 38 zu erhöhen.
Aus einer Klima-Agenda habe sich eine wirtschaftliche Agenda entwickelt, stellte sie fest und kündigte zudem eine Untersuchung an mit Blick auf unlauteren Wettbewerb bei Elektroautos aus China. Die E-Mobilität sei eine entscheidende Industrie für eine "saubere Wirtschaft". Die Weltmärkte würden nun aber von billigen chinesischen E-Autos "überschwemmt", deren Preise durch staatliche Subventionen gedrückt seien. Sie werde sich den „unfairen Handelspraktiken“ Chinas auch weiterhin entgegensetzen und kündigte an, diese auch beim nächsten EU-China-Gipfel ansprechen zu wollen. Von der Leyen betonte aber, dass es wichtig sei, die Kommunikationskanäle nach China offen zu halten.
Weiterhin kündigte sie ein "Paket für die Windkraft in Europa" an, Genehmigungsverfahren sollten beschleunigt werden. Dabei forderte sie, die Wirtschaft zu dekarbonisieren.
Um die drei großen Herausforderungen dieser Zeit - den Arbeitskräftemangel, die Wettbewerbsfähigkeit und die Rahmenbedingungen für Europas Unternehmen anzugehen - schlug von der Leyen mehrere Initiativen vor. Sie habe den ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi - laut der Kommissionschefin „einer der größten Wirtschaftsexperten Europas“ - gebeten, einen Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zu erstellen.
Um den Arbeitsmarkt fit für die Zukunft zu machen und den Fach- und Arbeitskräftemangel zu bekämpfen, will die KOM im kommenden Jahr gemeinsam mit der belgischen Präsidentschaft erneut einen Gipfel mit den Sozialpartnern in Val Duchesse einberufen.
Des Weiteren plane sie, einen „Beauftragten für KMU“ in der KOM einzurichten, der sich um die Anliegen des Mittelstandes kümmern solle (insbesondere beim Bürokratieabbau) und der ihr direkt berichten werde.
Als Erfolge bezeichnet von der Leyen die Richtlinie über Frauen in Aufsichtsräten oder den historischen Beitritt der EU zur Istanbul-Konvention. Mit der Richtlinie über die Lohntransparenz habe die KOM den Grundsatz, dass gleiche Arbeit gleiches Entgelt verdiene, gesetzlich verankert. Sie warb um die Unterstützung des Kommissionsvorschlages Vorschlages zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.
Für die Wettbewerbsfähigkeit seien besonders kritische Rohstoffe und der effiziente Einsatz der Künstlichen Intelligenz (KI) relevant. Aus diesem Grund werde noch in diesem Jahr das erste Treffen eines neuen Clubs für kritische Rohstoffe einberufen werden.
KI könne laut von der Leyen einiges verbessern. Doch sollten ihre durchaus realen Gefahren nicht unterschätzt werden. Oberste Priorität sei es, sicherzustellen, dass sich die KI auf eine menschenzentrierte, transparente und verantwortungsvolle Weise entwickele. Wichtig seien hierbei Supercomputer: Deshalb versprach sie, KI-Start-ups Hochleistungscomputer zur Verfügung zu stellen, um ihre Geschäftsmodelle zu erproben. Sie schlug ferner die Einrichtung eines Expertenrates zur Steuerung der KI vor, vergleichbar dem Weltklimarat, um eine weltweite Kontrolle realisieren zu können.
Parallel wolle die KOM weiterhin einen offenen und fairen Handel vorantreiben: Bis Ende des Jahres wolle man mit Australien, Mexiko und dem Mercosur zu einem Abschluss zu gelangen.
Von der Leyen bekräftigte, die EU stehe weiter an der Seite der Ukraine. Die Unterstützung der Ukraine werde von Dauer sein. Sie kündigte an, dass die KOM die Verlängerung des vorübergehenden Schutzes für die in die EU geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer vorschlagen werde.
Die Kommissionspräsidentin betonte, dass die Zukunft der Ukraine die EU sei. Gleiches gelte für den West-Balkan und Moldau. Und auch für viele Menschen in Georgien sei die EU-Perspektive wichtig. Sie skizzierte ein Europa der „30 Plus“ Mitgliedstaaten, das künftig mehr als 500 Millionen Menschen repräsentiere. Sie sprach dabei mehrfach von der „Vollendung der Union“. Erweiterungskritischen Stimmen rief sie entgegen, dass die Behauptung, Europa werde durch Erweiterung weniger effizient, habe sich in der Vergangenheit immer als Irrtum erwiesen. Um den weiteren Beitritt von Ländern voranzubringen, könne und solle man nicht auf eine Vertragsänderung warten.
Die Zusammenarbeit mit Afrika solle verstärkt werden: Die Serie von Militärputschen werde die Region auf Jahre destabilisieren. Russland habe seine Hände im Spiel und schlage aus dem Chaos Kapital. Damit sei die Region ein fruchtbarer Boden für zunehmenden Terrorismus geworden, wodurch Europa unmittelbar gefährdet sei. Deshalb werde die Brüsseler Behörde zusammen mit dem EU-Außenbeauftragten Borrell ein neues Strategiekonzept für den nächsten EU-AU-Gipfel vorlegen. Im Zusammenhang mit dem vorgeschlagenen Asyl- und Migrationspaket kündigte von der Leyen an, dass die KOM eine internationale Konferenz zur Bekämpfung des Menschenhandels plane. (CD/HP)