Nach einer mehrstündigen emotionalen Debatte im Sejm, dem polnischen Abgeordnetenhaus, und trotz landesweiter Proteste hat die regierende polnische PiS-Partei am 20. Dezember 2019 ein weiteres kontroverses Gesetz auf den Weg gebracht, um Richter disziplinarisch mit Geldstrafen, Herabstufung oder gar Entlassung abzustrafen, wenn sie die Zuständigkeit und Legalität eines anderen Gerichts oder Richters bzw. einer anderen Kammer infrage stellen. Dies soll unter anderem verhindern, dass die Richter strittige Fragen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorlegen und würde damit de facto einen Angriff auf den Vorrang des EU-Rechts darstellen. Zudem soll den Richtern eine politische Betätigung untersagt werden.
Die EU-Kommission hatte zuvor an Warschau appelliert, das Gesetzesvorhaben zumindest zu verschieben. In ihrem Brief an die polnische Staatsführung bat Vize-Kommissionspräsidentin Věra Jourová die Behörden darum, sich zunächst mit der sogenannten Venedig-Kommission, einem Organ von Verfassungsexperten des Europarats, in Verbindung zu setzen.
Diese ungewöhnlich frühe Einmischung der Kommission weist auf das angespannte Verhältnis zu Polen hin. Das Land hat seit 2015 immer wieder neue Justizreformen verabschiedet. Sie gefährden in den Augen der meisten Beobachter den Rechtsstaat, indem sie die Unabhängigkeit der Justiz aktiv untergraben. Die Kommission hat daher bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet.
Erst im Oktober 2019 hatte der EuGH eine Aussetzung der Zwangspensionierung von Richtern verfügt. Im folgenden Monat kritisierte er zudem die Zusammensetzung des polnischen Landesgerichtsrats (Krajowa Rada Sądownictwa, KRS), der mit der Auswahl von Richter-Kandidaten betraut ist. Die PiS hatte zuvor durchgesetzt, dass dieser nicht mehr von Richterverbänden, sondern vom Parlament bestückt wird, wodurch die Legislative unmittelbar Einfluss auf die Justiz nimmt.
Der EuGH hatte die endgültige Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des KRS dem Obersten Gericht in Warschau übertragen, das diesen am 5. Dezember 2019 für nicht unabhängig befand - womit auch der neu geschaffenen Disziplinarkammer, dessen Richter durch den KRS berufen worden waren, der Status als unabhängige Institution aberkannt wurde. Mit dem daraufhin von der PiS eingebrachten Gesetz könnten Richter, die sich auf diese Entscheidungen berufen und den KRS kritisieren, nun disziplinarisch abgestraft werden.
In wenigen Monaten wird das EuGH-Urteil zu einer das gesamte Justizsystem Polens betreffenden Klage erwartet. Allerdings stellten einige PiS-Politiker in der Vergangenheit die Kompetenz des Europäischen Gerichtshofs infrage, über die Ausgestaltung des polnischen Justizsystems zu urteilen. Das neue Gesetz solle dagegen die Befugnisse des polnischen Verfassungsgerichts stärken, sodass Richter künftig nur noch mit dessen Zustimmung internationales Recht anwenden dürften.
Noch muss das Gesetz durch die zweite Kammer, den oppositionsgeführten Senat, der es am 15. Januar 2020 schnell ablehnen dürfte. Seine Position könnte jedoch anschließend vom Sejm überstimmt und von Präsident Duda abgesegnet werden. Allerdings regt sich auch innerhalb der Regierung Widerstand: Wissenschaftsminister Jarosław Gowin twitterte jüngst, der Streit habe „eine solche Schärfe erreicht, dass er die Rechtssicherheit der Polen gefährdet“. Als einer der drei stellvertretenden Regierungschefs könnte er mit seiner Anhängerschaft die absolute Mehrheit seiner PiS gefährden und das Gesetz so letztendlich stoppen. Die opponierende Bauernpartei PSL hat daher jüngst zu einem „runden Tisch“ eingeladen.
Dass die Aushöhlung des Rechtsstaates insgesamt - wie in einigen Medienberichten angedeutet - zu einem „Polexit“ führen könnte, hält Krzysztof Mularczyk, politischer Redakteur bei Poland IN, aktuell für unwahrscheinlich, denn hierzu müsse die Regierung wie im Fall Großbritanniens selbst den Austritt beantragen, wofür er keine Mehrheit sehe. Schlimmste Konsequenz der durch die Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren wäre ein Stimmentzug. (JBl)