| Zukunft der EU

Quo vadis, Europa?

Am 1. November 2019 wird die neue EU-Kommission unter der Leitung der bisherigen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen voraussichtlich ihre Arbeit aufnehmen. Dieser Tag könnte auch der Erste sein, den die EU nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs erlebt, dem drittbevölkerungsreichsten und nach Deutschland wirtschaftlich stärksten noch-Mitgliedstaat. Den 1. November sowie die Krisen und Herausforderungen des vergangenen und kommenden Jahrzehnts im Blick, stellen sich viele Europäerinnen und Europäer in diesem Herbst mit besonderer Brisanz somit die Frage: Wie geht es weiter mit Europa?

Die Geschichte der Europäischen Union ist zweifelsohne eine des Erfolgs: Als supranationale Organisation ohnegleichen hat sie ihren Bürgerinnen und Bürgern Fortschritt und Wohlstand gebracht und insbesondere garantiert sie auf dem historisch wohl kriegerischsten Kontinent den Frieden. Jedoch haben das Renommee, die Akzeptanz und der Geist der Europäischen Union im letzten Jahrzehnt erheblichen Schaden erlitten; überall liest und hört man es: „Die EU ist in der Krise“, „Europa ist gespalten“, „Die EU hat keine Zukunft mehr“. In der Tat kann man in vielen Bereichen – insbesondere bei der sogenannten „Flüchtlingskrise“, wo sich etwa in Person der deutschen Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete und dem italienischen Oppositionsführer Matteo Salvini scheinbar unversöhnliche Positionen diametral gegenüberstehen – beim besten Willen nicht mehr von einer europäischen Werte- und Solidargemeinschaft sprechen. Auch die europäische Wirtschafts-, Währungs- und Rechtsgemeinschaft kriselt oder steht in der Kritik. Längst wird die EU nicht mehr nur von Rechts- und Linkspopulisten angegriffen, sondern hat auch bei der bürgerlichen Mitte Vertrauen verloren. Dass etwas in und mit der EU aktuell nicht gut funktioniert und dass Reformen erforderlich sind, scheint daher bei vielen Europäerinnen und Europäern Konsens zu sein. Höchst streitig ist jedoch, wie weit und insbesondere in welche Richtung diese Reformen gehen sollen.   

In ihrem aktuellen Zustand ist die EU irgendwo zwischen einem supranationalen Bundesstaat und einem intergouvernementalen Staatenverbund zu verorten; sie ist eine Organisation sui generis.

Viele EU-Skeptiker würden gerne den Weg zu einem „Europa der Nationen“ einschlagen. Nach diesem Konzept sollen keinesfalls weitere politische und rechtliche Kompetenzen in Brüssel akkumuliert werden, vielmehr sollen staatliche Befugnisse renationalisiert werden. Unabhängig von der komplexen Frage, ob Hoheitsgewalt im nationalstaatlichen Rahmen flexibler und effizienter ausgeübt werden kann, ist ein valides Argument für diesen „weniger-EU-Kurs“, dass die demokratische Legitimation der hoheitlichen Gewalt im souveränen demokratischen Nationalstaat direkter und insbesondere transparenter ist. 

Genau an diesem Punkt wollen viele glühende Europäer ansetzen und den Weg einer „immer enger werdenden Europäischen Union“ (Art. 1 AEUV) konsequent weitergehen. Nach dieser Konzeption sollen die Mitgliedstaaten immer mehr Souveränität zu Gunsten der Europäischen Union aufgeben und in letzter Konsequenz in einem föderalen EU-Staat aufgehen. Freilich sind sich die Wortführer dieses „mehr-EU-Kurses“ dessen bewusst, dass dieser Transformationsprozess struktureller Reformen auf institutioneller Ebene bedarf, damit er auch von den Europäerinnen und Europäern mit- und vorangetragen wird. So soll etwa das Europäische Parlament mit seinen direkt gewählten Abgeordneten unter der neuen Kommission ein Gesetzesinitiativrecht bekommen. Neben einer Demokratisierung der EU werden weitere konkrete Veränderungen u.a. im Finanz- und Wirtschafts- sowie im Asyl- und Verteidigungssektor erforderlich sein. Wie ein solches Europa letztlich einmal aussehen könnte, hatte bekanntermaßen allen voran der französische Präsident Emmanuel Macron in einer aufsehenerregenden Vision vorgezeichnet. Sicherlich sind Kompromisse erforderlich – schließlich lebt die EU von der Vielfalt in ihrer Einheit – interessante Ansätze, wie zum Beispiel auch der eines „Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“, stehen im Raum und werden kontrovers diskutiert.

In diesem für Europa weichenstellenden Herbst scheint eines gewiss: Wir, die Europäerinnen und Europäer, stehen an einem Scheideweg. Dabei muss und kann jeder selbst entscheiden, ob er sich in unruhigen Zeiten einer immer stärkeren Globalisierung mit bröckelnder westlicher Vorherrschaft lieber auf seine Nation zurückbesinnt oder als Europäer die Welt von morgen mitprägen möchte. Allein für diese Möglichkeit, über unseren politischen Weg in freier Ausübung unseres Wahlrechts zu entscheiden, sollten wir Europa danken und es in Krisenzeiten keinesfalls aufgeben. (FP)

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