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Von der Leyen zur Lage der Europäischen Union

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat am 16. September 2020 ihre erste Rede zur Lage der Europäischen Union vor dem Europäischen Parlament gehalten (#SOTEU). Das Format an sich hatte 2010 der damalige Präsident José Manuel Barroso ins Leben gerufen. Nicht ganz zufällig erinnert der offizielle Name an die jährliche Berichterstattung der US-Präsidenten an den Kongress.

Wie zu erwarten war, bildete der Ausbruch der Corona-Pandemie den Einstieg in die mit 79 Minuten bisher längste Rede zur Lage der Union. Der physische Abstand und die hinter Masken verborgenen Gesichter hätten gezeigt, wie „zerbrechlich [die europäische] Wertegemeinschaft“ doch sei, erklärte von der Leyen.

Die Kommissionspräsidentin kam schnell zu den besonderen Anstrengungen jedes Einzelnen und der Gemeinschaft und dankte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Gesundheits- und Pflegeberufen für ihre Tatkraft, für ihren Mut und ihr Pflichtbewusstsein. Gleichzeitig forderte sie die Schaffung einer stärkeren europäischen Gesundheitsunion.

Von der Leyen stellte klar, dass sich die Kompetenzen der Europäischen Union im Gesundheitssektor verbessern müssten, um für zukünftige Krisen besser gewappnet zu sein. Dazu gehöre neben der strategischen Lagerung von pharmazeutischen Produkten sowie der Sicherstellung der entsprechenden Lieferketten auch die Schaffung einer europäischen Agentur zur Erforschung chemisch-biologischer Bedrohungen – analog zur U.S.-Behörde BARDA. Die Kompetenzen der EU im Gesundheitssektor sollten auf der Konferenz zur Zukunft Europas diskutiert werden, so von der Leyen. Darüber hinaus kündigte sie für das Jahr 2021 einen Global Health Summit in Italien an.

Beim Parlament bedankte sich von der Leyen dafür, dass es für ein finanziell stark ausgestattetes und zukunftsfähiges EU4Health-Programm eintrete und sich gegen die Kürzungen des Rates stelle. Mithilfe eines schnell agierenden Parlaments konnten in Rekordzeit 90 Mrd. Euro an Soforthilfe über das SURE-Programm bereitgestellt werden. Über 40 Mio. Menschen haben Unterstützung über das Programm beantragt. Dadurch, so die Präsidentin, konnte in der EU eine hohe Arbeitslosigkeit verhindert werden. In diesem Zusammenhang stellte von der Leyen einen Rahmen für Mindestlöhne in Aussicht.

Stabilität habe für die EU eine hohe Bedeutung, so die Chefin der Kommission. In der Corona-Krise habe die EU schnell finanzielle Mittel auf EU-Ebene bereitgestellt. Doch es sei wichtig, das Gleichgewicht zwischen der Bereitstellung finanzieller Unterstützung und einem ausgeglichenen nachhaltigen Haushalt zu wahren. Sie forderte daher eine stärkere Wirtschafts- und Währungsunion. Das Vertrauen in den Euro sei niemals zuvor größer gewesen. Mit dem Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ sei der notwendige politische Rückhalt gegeben, nun sei es aber an der Zeit für strukturelle Reformen. Sie kündigte an, die Kapitalmarktunion und Bankenunion zu vollenden. Sie führte die Chancen des Binnenmarkts für Menschen und Unternehmen aus und kündigte eine neue Strategie für die Zukunft von Schengen an. Im März 2020 habe die Kommission ihre neue Industriestrategie vorgestellt, die sie angesichts der Corona-Pandemie Ende des Jahres aktualisieren werde.

Die EU verfolge weiterhin die Vision, der erste klimaneutrale Kontinent bis 2050 zu werden. Auf dieser Grundlage beabsichtigt die Kommission die 2030-Emissionsreduktionsziele von 40 auf mindestens 55 Prozent zu erhöhen. Eine Reduktion der Treibhausgasemission von 55 Prozent sei ein ehrgeiziges, aber auch machbares Ziel, so von der Leyen. Die Kommission möchte bis Sommer 2021 Vorschläge vorlegen, um die Luftverschmutzung zu halbieren. Außerdem werde sie bis Sommer 2021 alle Rechtsakte im Hinblick Klima auf das 55-Prozent-Klimaziel anpassen. Die Präsidentin der Kommission nannte auch Zahlen: 30 Prozent der 750 Mrd. Euro aus dem Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ sollen durch grüne Anleihen (Green Bonds) aufgebracht werden. 37 Prozent sollen direkt in die Umsetzung der Green-Deal-Ziele investiert werden. Diese umfassen europäische Vorzeigeprojekte wie Wasserstoff, umweltfreundliche Gebäude und eine Mio. elektrischer Ladestationen. „Next Generation EU“ solle die Wirtschaft der EU nicht nur wiederaufbauen. Der Aufbaufonds solle sie auch in die Zukunft bringen, sagte die Präsidentin und sprach auch von einem kulturellen Wandel, einem „neuen, europäischen Bauhaus“ als gemeinsamem Raum des Schaffens für Architekten und Künstler.

Von der Leyen kündigte ferner an, wenn es bis Ende 2020 immer noch keine globale Lösung für eine faire Besteuerung der digitalen Wirtschaft gebe, werde die EU alleine handeln. In dem Fall werde die Kommission Anfang nächsten Jahres einen Vorschlag machen. Auch soll Mechanismus zum CO2-Grenzausgleich für Importprodukte eingeführt werden. Dieser solle sicherstellen, dass die EU-Wirtschaft nicht wegen strengerer Klimaschutzauflagen leiden werde. Der Mechanismus soll ausländische Produzenten und EU-Importeure dazu verpflichten, ihre CO2-Emissionen zu reduzieren und zugleich unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen in einer WTO-kompatiblen Weise ausgleichen.

Das kommende Jahrzehnt müsse Europas „Digital Decade“ sein, sagte von der Leyen und wechselte hierzu in ihre Muttersprache. Dazu brauche es klare Prinzipien. Privatsphäre, freier Datenfluss, Cybersicherheit und Meinungsfreiheit müssten gewährleistet sein. Europa müsse führen, oder andere setzen die Standards. Sie kritisierte, dass Europa bei personalisierten Daten sei zu langsam gewesen sei. Nun müsse es bei industrialisierten Daten die Führung übernhemen. Sie kündigte die Entwicklung gemeinsamer Datenräume im Energie- und Gesundheitswesen sowie gemeinsamer Datencluster für Universitäten sowie den Aufbau einer europäischen Cloud auf der Grundlage von GAIA-X an.

Eine hohe Bedeutung komme der Künstlichen Intelligenz zu. Sie biete neue Welten, aber dazu seien auch Regeln notwendig, erklärte die Kommissionspräsidentin. Algorithmen dürften keine Blackbox sein. Die Kommission werde daher 2021 ein neues Gesetz vorschlagen. Mithilfe einer neuen sicheren europäischen digitalen Identität sollen die Bürgerinnen und Bürgern alle Dienstleistungen nutzen können und gleichzeitig mehr Kontrolle über ihre eigenen Daten haben. Dazu müssten jedoch zunächst die Infrastruktur verbessert und der Breitbandausbau vorangetrieben werden. Die Digitalisierung, so von der Leyen, sei die Chance für die Revitalisierung der ländlichen Räume. 20 Prozent aus „Next Generation EU“ sollen in Digitaltechnik investiert werden.

Beim Thema internationale Partnerschaften bekräftigte von der Leyen die Loyalität der EU zur Zusammenarbeit in den internationalen Gremien und warb um Verständnis, dass multilaterale Reformen Zeit benötigen, forderte von den Mitgliedstaaten aber auch raschere Positionierungen. Einzelne Organisationen könnten nicht als „Geisel“ genommen werden, um unilaterale Interessen durchzusetzen. Von der Leyen unterstrich gleichzeitig, dass Partnerschaften, die seit vielen Jahrzehnten bestehen, nicht einfach aufgekündigt werden würden. Konkret betreffe dies ungeachtet des Wahlausgangs in den USA im November das transatlantische Bündnis. Die Kommission werde eine neue transatlantische Agenda vorstellen und die Partnerschaft bei Handel, Technik und Besteuerung und der Zusammenarbeit zur Weiterentwicklung stärken. Mit Blick auf Großbritannien bekräftigte sie die Zuneigung zum britischen Volk, zeigte sich jedoch besorgt, dass die Chance auf einen gemeinsamen Vertrag schwinde, obwohl das Austrittsabkommen zuvor über drei Jahre gründlich verhandelt wurde. Viel Zeit bleibe nicht mehr, aber man werde keinen Vertrag brechen, so die Präsidentin unter Berufung auf die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher. Es sei Zeit für einen Neubeginn mit alten Freunden, sagte von der Leyen zusammenfassend.

Sie sprach auch von China als einem der wichtigsten und gleichzeitig schwierigsten Partner. Die Volksrepublik sei systemischer Gegenspieler und wirtschaftlicher Konkurrent, aber gleichzeitig auch relevanter Akteur in der Zusammenarbeit für den Klimaschutz.

Die Präsidentin sieht die EU aber auch in der Pflicht, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern – ob in Hongkong oder gegen die Uiguren – und fragte offen „Was hält uns davon ab?“ Europa müsse weltweit für Fairness stehen und sein „diplomatisches Gewicht und [seine] wirtschaftliche Schlagkraft“ einsetzen, bei ethischen Fragen ebenso wie bei Umweltfragen. Anstelle verwässerter Stellungnahmen forderte sie bei der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen und der Verhängung von Sanktionen mit qualifizierter Mehrheit statt einstimmig zu entscheiden.

Zum Thema Migration sagte von der Leyen, dass die starken Zerwürfnisse zwischen den Mitgliedstaaten aus dem Jahr 2015 noch immer Auswirkungen hätten. Die Bilder von Moria hätten auf schmerzhafte Weise in Erinnerung gerufen, dass Europa sich einigen müsse. Am 23. September 2020 will die Kommission einen Migrationspakt vorstellen. Die Kommission werde für Bewältigung der Situation in Moria mehr Verantwortung übernehmen, sagte von der Leyen, stellte aber ebenso deutlich heraus, dass sie von den Mitgliedstaaten mehr Engagement erwarte. Migration sei eine europäische Aufgabe, zu der jeder seinen Beitrag leisten müsse.

Auch wenn die Türkei ein wichtiger Partner und Nachbar bleibe, ganz besonders mit Blick auf die Situation der Geflüchteten im Mittelmeerraum, so gelte dennoch die uneingeschränkte Solidarität der Europäischen Union mit ihren Mitgliedstaaten Zypern und Griechenland. Man werde keine Einschüchterung von türkischer Seite dulden, stellte die Chefin der Kommission klar.

Als Präventiv-Maßnahme soll noch im September ein erster Europäischer Rechtsstaatsbericht vorgestellt werden, um sicherzustellen, dass EU-Mittel ausschließlich unter Wahrung der Rechtstaatlichkeit ausgegeben werden. Es gelte, die Integrität europäischer Institutionen zu verteidigen sowie die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren. Europäische Werte könnten nicht veräußert werden. Dies gelte vor allem für den nächsten langfristigen EU-Haushalt. Die Kommission will dafür sorgen, dass das Geld aus dem Haushalt und aus NGEU vor jeder Art von Betrug, Korruption und Interessenkonflikten geschützt werde.

Das gewaltsame Einschreiten der Ordnungsbehörden bei den friedlichen Protesten in Belarus kritisierte von der Leyen ebenfalls scharf. Sie nannte das Vorgehen eine Schande und sicherte Belarus die Solidarität der Europäischen Union unmissverständlich zu. Auch im Fall des oppositionellen russischen Politikers Alexei Nawalny wurde von der Leyen deutlich und erklärte, dass es sich nicht um einen Einzelfall, sondern vielmehr um ein seit Jahren erkennbares Muster handele. Daran könne auch keine Pipeline etwas ändern, so die Präsidentin.

Die EU sei eine offene Gesellschaft und stehe für Vielfalt. Daher solle die Liste der Straftaten auf EU-Ebene um alle Formen der Hassrede und der Hassverbrechen erweitert werden. Sie kündigte einen Aktionsplan für eine antirassistische Union sowie die Anpassung der Gesetze zur ethnischen Gleichheit und bei Beschäftigung und Wohnbau an. Sie werde zudem einen ersten Koordinator für die Bekämpfung von Rassismus benennen. „Identität ist keine Ideologie und sie kann uns niemand nehmen“. In der EU sei kein Platz für LGBTI-freie Gebiete, erklärte von der Leyen, deshalb werde bald eine Kommissionstrategie zur Stärkung der LGBTI-Rechte erscheinen.

Reaktionen des Parlaments

Kommissionspräsidentin von der Leyen erhielt für ihre Rede starken Applaus und teilweise stehende Ovationen. Die Reaktionen der Fraktionsvorsitzenden im Europäischen Parlament fielen unterschiedlich aus.

Der Vorsitzende der Fraktion der Europäischen Volksparteien, Manfred Weber (DE/EPP) sprach der Kommissionspräsidentin Anerkennung für das Management eines „schwierigen Jahres“ aus. Er zeigte sich allerdings von ihrem Standpunkt in digitalen Fragen nicht überzeugt. Man habe von der Kommission Grünpapiere und Weißpapiere gesehen, aber „keinen echten Fortschritt“, so Weber.

Die Gruppe der Grünen zeigte sich erwartungsgemäß kritisch, was die angekündigte Treibhausgasemissionsreduktion um 55 Prozent angeht. Der Abgeordnete Michael Bloss (DE/EFA) erklärte, nur eine Reduktion um 65 Prozent könne Europa die gewünschte Führungsrolle verschaffen. Der Umweltausschuss des Parlaments hatte sich für 60 Prozent ausgesprochen. Dennoch begrüßte der Vorsitzende des Ausschusses, Pascal Canfin (FR/Renew Europe) die Erhöhung auf 55 Prozent.

Von den Sozialdemokraten äußerte sich die Vorsitzende der Fraktion, Iratxe García Pérez (SE/S&D) und sagte, man solle nach vorne schauen und sich nun der Konferenz für die Zukunft Europas zuwenden. Sie sprach sich für die Finanztransaktionssteuer aus und begrüßte das neue Ziel zur Reduktion der Treibhausgasemission bis 2030. Man solle allerdings nicht vergessen, dass die Menschen Teil des Wandels seien, so García Pérez. Deshalb brauche es eine „Strategie zur Bekämpfung von Armut, einschließlich Kinderarmut, und einen Mindestlohn.“

Die Vorsitzende der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken, Nordische Grüne Linke, Manon Aubry (GUE/NGL/FR) unterstrich, dass die Menschen in Europa mehr erwarteten als „leere Slogans“. Auch wenn sich von der Leyens Worte ändern würden, so bliebe das Rezept dasselbe: Freier Handel, Sparkurs und Wettbewerb – Werte, die „uns an den Rand des Ruins getrieben haben“, sagte Aubry.

Der Vorsitzender der Fraktion Renew Europe, Dacian Cioloş (RU/RE) betonte die Wichtigkeit der Rechtstaatlichkeit bei der Verteilung von EU-Mitteln, um das Vertrauen der Menschen zu erhalten. Der Abgeordnete Moritz Körner (DE/Renew Europe) zeigte sich enttäuscht, dass die Kommissionspräsidentin den Digital Services Act nicht erwähnt hatte. Von der Leyen hatte allerdings zur neuen sicheren digitalen Identität gesprochen, die Teil des DSA ist.

Die Europäischen Konservativen und Reformer sehen die EU sei in einer schlechteren Verfassung als noch vor zehn Jahren, so der Abgeordnete Ryszard Legutko (PL/EKR). Der Grüne Deal sei eine „kostspielige Extravaganz“ und die Vorkehrungen zur Sicherung der Rechtstaatlichkeit ein Trick, um nationale Regierungen zu drangsalieren. Er forderte von der Leyen auf, die europäische Union von „Ideologie“ zu befreien und zur Realität zurückzukehren.

Die Ko-Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Parlament, Ska Keller (DE/EFA) sagte, die Rede der Präsidentin sei überschattet gewesen von den Versäumnissen der Kommission an den Außengrenzen der EU und nannte die Situation eine „Schande“. Es sei genau die Erfahrung von Krieg, Zerstörung und Vertreibung gewesen, die vor Jahrzehnten zur Gründung der Europäischen Union geführt habe. (sch/TS/CM)

https://ec.europa.eu/germany/news/20200916-lage-der-union_de

https://www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20200910IPR86812/state-of-the-union-debate-ec-president-von-der-leyen-to-address-the-house

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